Der kaleidoskopische Blick

Die etwas andere Biografie.

 

Es war ein Freitag, der vierundachtzigste Tag des Jahres 1955. Um exakt viertel nach drei nachmittags schlüpfte er aus dem Leib der Mutter. Obwohl man ja keine bewusste Erinnerung an die Geburt hat, hatte er immer ein konkretes Bild von diesem Moment. Wahrscheinlich, weil er fünf Jahre später etwas Ähnliches miterleben durfte - die Geburt seines Bruders. Es passierte in der kleinen Wohnung seiner Eltern unweit der Salzach. Es war die Nacht seines fünften Geburtstags und er hatte sich seine eigene Geburt genauso vorgestellt.

 

Zurück ins Jahr 1955. Er schlüpfte aus dem Leib der Mutter und versuchte seine Augen zu öffnen. Nicht zum ersten Mal, die Lider hatten ja wie bei jedem anderen Ungeborenen schon drei Monate vor der Geburt zu schlagen begonnen. Aber das war im Wasser, in der Dunkelheit. Jetzt war es auf einmal unvorstellbar hell. Dennoch blieb die ganze Welt ein wenig schwummrig - alles was weiter weg war als Mamas Gesicht beim Stillen konnte er nicht scharf stellen, so sehr er sich auch abmühte. 

 

Dass dies die nächsten Jahre so bleiben sollte, war ihm zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst. Auch seinen Eltern nicht, woher hätten sie auch wissen sollen, dass ihr erstgeborener Sohn unter einer extremen Kurzsichtigkeit litt. Genauso musste Claude Monet die Welt durch seinen grauen Star gesehen haben. Formen und Farben verschwimmen völlig, leuchtendes Blau und Grün verwandelt sich in gelbe und braune Erdtöne. Edgar Degas erging es ähnlich. Der Impressionismus war geboren. Aber das war noch vor 1955.

 

Die ersten sechs Jahre seines Lebens waren also auf impressionistische Weise von einem verschwommenen, aber wunderschönen Garten geprägt, in seinem Fall vom Lehener Park, Naherholungsgebiet und Schrottplatz direkt an der elterlichen Wohnung. Rückblickend betrachtet, war dies die schönste Zeit seines Sehens. Keine scharfen Kanten, nur fließende Übergänge, weiche Gesichtszüge, selbst die hässlichsten Figuren erschienen warm und freundlich, das Erlebte hatte Macht über das Gesehene.

 

So schaute er also sechs Jahre lang die Welt, dann kam das Erwachen. In der Schule reichte das impressionistische Sehen nicht mehr aus. Er bekam eine Brille, das bewusste Sehen übernahm das Kommando und musste sich mit dem Erleben erst arrangieren. Ihn störte das nicht weiter, zu interessant waren die neuen Aspekte der nun scharf gesehenen Welt. Die Wildnis der Kindheit bekam ein neues Gesicht. Er verbrachte die meiste Zeit mit anderen Kindern auf den umliegenden Wiesen, den vergessenen Bunkern und Baracken des zweiten Weltkrieges. Noch heute spürt er eine tiefe Dankbarkeit für die unglaubliche Freiheit, die ihm seine Eltern gaben, in dieser Wildnis das kindliche Abenteuer zu suchen.

 

Vielleicht lag bei ihm hier schon der Beginn einer starken Anziehung zur Kunst und zum Gestalterischen. Kunst ist eine Form der Erkundung, ein selbstständiger Aufbruch ins Unbekannte, das Ziel sind die weißen Flecken auf der Landkarte. Wenn Kindern nicht erlaubt wird, als Kinder Abenteurer zu sein, was wird dann aus der Welt der Abenteuer, der Geschichten, der Literatur, des Films, der Malerei, des Theaters?

 

In diese Zeit fiel auch seine erste Begegnung mit einem Kaleidoskop. Es war keines jener Exemplare, die Bilder aus bunten funkelnden Glasstücken zauberten - nein - es war ganz nach dem schottischen Philosophen und Kaleidoskop-Erfinder Sir David Brewster jene Variante, die wie ein Objektiv die Wirklichkeit abbildet, allerdings vervielfacht und symmetriert durch unzählige Spiegel im Inneren. Betrachtete Gegenstände spiegeln sich mehrfach, werden zu Mustern und Formen, die sich ständig in Veränderung befinden. Es war wie ein Suchtmittel - bereits die kleinste Bewegung genügte und das gerade noch wunderschön strahlende Bild verging, um sich für kurze Zeit zu einer neuen, einmaligen Komposition aus Licht, Form und Farbe zu fügen. Diese kleine Pappröhre hatte ihm eine ganz neues Sehen, einen anderen Blick auf die Welt gelehrt.

 

Immer mehr begriff er, das es Bilder waren, die sein Denken so in den Bann zogen. Sie waren all­ge­gen­wärtig, nicht nur in seiner unmit­telbar umge­benden Umwelt, son­dern auch in seinem Kopf. Schloss er die Augen, sah er Bilder. Ohne es zu merken, war er er der sug­ges­tiven Kraft der Bilder erlegen, ihrer ein­fa­chen und direkten Sprache. Alles - Trauer oder Freude, Sieg oder Nie­der­lage, sinn­li­ches Ver­gnügen oder beson­derer Augen­blick — wurde zu einer Ikone in seinem Gedächtnis. Das war eine ganz neue Erkenntnis - er konnte nach innen genauso gut sehen wie nach aussen. 

 

Doch wie so oft, wenn man sich als Suchender durch das Leben streift, findet man etwas ganz anderes. Alle Teile, die ihm scheinbar fehlten, tauchten plötzlich auf, seine Schutzpanzer fielen, einer nach dem anderen, Ängste und Grübeleien verflüchtigten sich, liessen ihn  nackt und verletzlich zurück, in einem Zustand kindlicher Unschuld und Offenheit. Und auf einmal wusste er, dass er niemals in Frieden sein könnte mit weniger als das, was er gerade durchlebte. Er hatte die Liebe entdeckt. Es war viel mehr als der Blick durchs Kaleidoskop, dieser berauschenden Wirkung der Verschmelzung von Geist und Seele - jetzt kam hier auch noch das Fleisch dazu, die Haut, die Lust.

 

Er lernte schnell, dass man dieses Gefühl und die damit verbundene Schönheit nur manchmal und zeitlich begrenzt halten konnte, oft verschwand es einfach. Das brachte ihn auf die Idee, es einfach auf andere Weise festzuhalten. Die Lichtmalerei hatte den Suchenden entdeckt. Von der ersten Begegnung mit einem Fotoapparat empfand er die immer stärker zunehmende Sucht, jeden Moment fotografisch zu vereinnahmen. Er versuchte von nun an, sich der Wahrhaftigkeit des Erlebten zu vergewissern und ihr mit der Fotografie seinen Stempel aufzudrücken. Der Moment des Fotografierens wurde für ihn etwas Magisches, dieser Augenblick offenbarte schliesslich seine Art, schauend die Welt zu lesen – so als würde er ein Gedicht schreiben.

 

Doch letztlich blieb es nur ein Bild. Irgend etwas fehlte. Von Platon stammt die Idee mit dem Kugelmenschen, der von den Göttern in zwei Teile getrennt dazu verdammt war, sein Leben lang seine verlorene zweite Hälfte zu finden. Und John Lennon sang 1971 die Zeile: "I was feeling insecure, you might not love me anymore." Die Botschaft in diesem Song: Dass wir unser Seelenheil von den Gefühlen eines einzigen Menschen abhängig machen. In allen Lebensbelangen drängt das Ich nach Emanzipation, von den Eltern, der Festanstellung, sogar von uns selbst wollen wir uns befreien bei der Meditation und im Schweigekloster. Nur in der wirklichen, echten Liebe richtet sich unser Optimierungswille nicht auf Befreiung. Was wir wollen, ist ein Mensch, der uns vervollständigt. Er hatte diesen Menschen gefunden. Er hatte sie gefunden. Sie war es. Sie sollte die Liebe seines Lebens werden und den Horizont seines Sehens in eine neue Dimension führen.

 

Diese Liebe sollte aber noch andere Überraschungen für ihn bereithalten. Nach der kindlichen Liebe zu den Eltern, der leidenschaftlichen Liebe zu seiner Frau und Geliebten stellte sich auf einmal ein ganz neues Gefühl ein - die Liebe zu seinen Kindern. Auf einmal entstand ein ganz neues Leben wie durch ein langsam von fremder Hand gedrehtes Kaleidoskop, in welchem sich lose Späne unter einem unsichtbaren Magnet zu einem eher figurativen Ganzen formieren. Der Name dafür: Familie. Das Leben selbst hatte sich gedreht. Neue Bilder, neues Sehen. Er fand es faszinierend, die unschuldige Neugierde der Kinder zu beobachten. Und vor allem - das Staunen. Wo hatte er es gelassen? Am Abenteuerplatz seiner Kindheit, am Jahrmarkt beim ersten Blick durch das Kaleidoskop? Die Kinder halfen ihm, dieses staunende Sehen wieder zu entdecken. Mehr noch, sie boten ihm den Spiegel und ließen ihn ein wenig von dem entdecken, was sich auf der Seite befand, die er bewusst nicht geschaut hatte.

 

Die Jahre waren ins Land gezogen, die Liebe war immer noch da, die Kinder groß geworden, die Kinder hatten Kinder in die Familie gebracht, der Kreislauf des Lebens drehte unaufhörlich seine Runden. Seine Welt schien größer geworden zu sein, die Menschen mehr, eine bunte Abfolge von Sichtweisen, Bildern, Worten und Gedanken, die wiederum ein großes Bild ergaben, das sich immer wieder neu zusammensetzte. Das ist, was er mitnahm: Das Leben ist ständig in Bewegung, in bunter Folge und unzähligen Farben, in rascher Bewegung und ständigem Wechsel, im Hellen und im Dunklen, über Höhen und Tiefen, mit Freuden und Schmerzen, im Kommen und Gehen. Je nachdem wie wir die Ereignisse betrachten und uns verhalten, verändert sich das Bild wie in einem Kaleidoskop. 

 

In diesem Kontext sah er sich gerne als ein Suchender, denn die Suche verwandelte das Sein in eine lebenslange Entdeckungsreise. Es gefiel ihm, die Zeit als eine Summe von Augenblicken zu betrachten. Der Reichtum des Augenblicks, so glaubte er, offenbarte sich vor allem im direkten Sinn des Wortes, dem Sehen. Und bis heute erschließt sich der Zauber des Augenblicks für ihn im Bewusstsein, dass die eigene Welt in jedem Augenblick neu entsteht, prall gefüllt mit unzähligen Momenten voller Freundschaft und Liebe und das dadurch entstehende Bilder-Universum. Die Metapher war für ihn Wirklichkeit geworden. Und wenn er heute an die Wand tippt, auf irgendeine Facette des Lebens-Kaleidoskops, dann erscheint ein neues Bild. Immer wieder.